Die Glaubensgemeinschaft der Aleviten blickt auf eine 1400-jährige Geschichte zurück. Ihr Ursprung reicht bis in die Zeit des Propheten Muhammad und dessen Schwiegersohn Ali. Als eigenständige Glaubensrichtung im Islam hat sich das Alevitentum im Zuge der Auseinandersetzungen um die Nachfolge des Propheten Muhammad entwickelt. Die Aleviten leiten ihren Namen von „Ali“, dem Vetter und Schwiegersohn des Propheten Muhammad, ab, dem sie höchste Verehrung erweisen; „Alevit“ ist demnach „ein Anhänger Alis“.[1] Sie vertreten die Auffassung, dass allein dem Kalifen Ali die Nachfolge des Propheten, also das Kalifat (politische Führung) und das Imamat (religiöse Führung), rechtmäßig zusteht. Die Verhinderung dieser Nachfolge war in der islamischen Geschichte die „Geburtsstunde“ der Aleviten. Es gibt drei wichtige Elemente im Alevitentum, die unzertrennlich voneinander betrachtet werden und die historischen sowie theologischen Thesen der Aleviten zusammenfassen. Diese fundamentalen Elemente des alevitischen Glaubens werden im Glaubensbekenntnis wie folgt ausgesprochen: „Allah-Muhammad-Ali“. Demnach ist Allah der einzige Schöpfer, Muhammad ist sein Gesandter, und Ali ist der rechtmäßige Stellvertreter des Propheten.[2]

Das Alevitentum ist als eigenständige Islaminterpretation Jahrhunderte lang erhalten geblieben, obwohl es immer wieder Unterdrückungen und Verfolgungen ausgesetzt war.[3] Innerhalb der islamischen Geschichte sind drei große theologische Strömungen (Sunnitentum, Schiitentum und das Alevitentum) zu beobachten, die sich jeweils aus dem Islam heraus entwickelt und ihn auf ihre eigene Art und Weise interpretiert haben. In ihrer heutigen Erscheinungsform haben sich die Aleviten vor allem als Ergebnis eines sozio-politischen Prozesses maßgeblich zwischen dem 12. und 17. Jahrhundert in Anatolien und der nahen Umgebung entwickelt.[4] Sie haben stets Widerstand gegen die Unterdrückung der osmanischen Machthaber und ihrer Minderheiten verübt und blieben in der Opposition. Viele Aleviten und auch andere Minderheiten wurden Opfer von Massakern, andere wiederum wurden verfolgt oder ins Exil geschickt.

Die geistigen Grundlagen der alevitischen Glaubensgemeinschaft haben sie zum größten Teil aus der islamischen Mystik bezogen, aber auch Elemente und Traditionen aus anderen alten Religionen haben die alevitische Kultur bereichert.

Die Glaubensgemeinschaft und Praxis der Aleviten unterscheiden sich gravierend von anderen Richtungen des Islams. Der größte Unterschied liegt jedoch beim Gottesbild, das sich nicht mit den orthodoxen Strömungen im Islam vergleichen lässt. Im Glauben der Orthodoxen ist Gott der absolute Gebieter über Himmel und Erde. In seiner großen Barmherzigkeit hat er den Menschen mit dem Koran die Wegweisung und die rechte Leitung in allen Fragen an die Hand gegeben. Der Mensch ist Gottes Knecht und hat ihm bedingungslos zu gehorchen; dafür wird ihm ewiges Heil zuteil; für sein Fehlverhalten droht ihm die Hölle.

Die Aleviten hingegen betonen, dass sie Gott in ihren Herzen tragen und sich bemühen, sich so zu entwickeln und zu verhalten, dass sie den göttlichen Eigenschaften möglichst nahekommen. Das Ideal wird vielfach in ihren kalligraphischen Darstellungen vom „vollkommenen Menschen“ sinnbildlich dargestellt. In jedem anderen Menschen begegnet dem Aleviten Gott. Der Gott der Aleviten ist der „liebende Gott“. Gott wird beschrieben als „universales Bewusstsein, aus dem alle Existenzformen hervorgegangen sind“.[5] In der alevitischen Terminologie wird der vollkommene Mensch „Insan-i Kamil“ genannt. Der Weg zum Insan-i Kamil ist jedoch ein langer Prozess, der zugleich noch andere Ziele impliziert, die dem Menschen am Ende das Leben erleichtern. Das Hauptziel bei dem ganzen Prozess ist, Gott geistig in sich zu entdecken, mit Gott bzw. mit der Schönheit der Schöpfung eins zu werden und somit zur Wahrheit und Erkenntnis zu gelangen, die als „Hakikat“ bezeichnet wird. Dies schließt die Zufriedenheit mit sich selbst, dem gesellschaftlichen Leben und dem Einklang mit der Natur ein.[6]

Die Weltanschauung der Aleviten ist geprägt vom humanistischen Denken und dem gleichberechtigten Miteinander aller Menschen. Die Menschenwürde und die große Achtung vor dem Menschen stellen für die Aleviten das höchste Gut dar. Ein Grundgedanke des Alevitentums lautet: „Betrachte alle Völker gleichwertig“ (türk.: „Her millete aynı gözle bak“).

Nach dem Grundverständnis der Aleviten wohnt Gott im Herzen eines jeden Menschen. Gott hat den Menschen nach seinem Bilde erschaffen und von seinem Geist eingehaucht. Der Schöpfer ist allgegenwärtig und lässt alle Lebewesen an sich teilhaben. Durch die Schöpfung wollte Gott (Allah) seine Göttlichkeit offenbaren. Aleviten bezeichnen den Schöpfer auch als “Hak”, weil Gott nach der alevitischen Glaubenslehre gerecht und die einzige Wahrheit ist. Der Mensch wird in der Schöpfungsvorstellung der Aleviten als die Krone der Schöpfung wahrgenommen, ist aus der Heiligkeit heraus erschaffen und darf somit nicht diskriminiert oder verletzt werden. Respekt und Toleranz gegenüber den Mitmenschen spielen eine sehr bedeutende Rolle in der alevitischen Glaubenslehre und Tradition.

Das Alevitentum lässt sich aufgrund der Gottesvorstellung, des Weltbilds, religionssoziologischer Entwicklungen und des Selbstverständnisses der Aleviten als eine eigenständige Islaminterpretation und Größe kenn

zeichnen. Dies bestätigt auch das im Auftrag des Landes Nordrhein-Westfalen durchgeführte religionswissenschaftliche Gutachten.[7] Demnach ist auch ohne jeden Zweifel die AABF (Alevitische Gemeinde Deutschland mit Sitz in Köln) als Religionsgemeinschaft im Sinne des Art. 7 Abs. 3 Grundgesetz anzuerkennen. Seit einigen Jahren wird der alevitische Religionsunterricht offiziell an öffentlichen Schulen unterrichtet.

Die Aleviten verrichten ihr Gebet in den Cem-Häusern (türk.: Cemevi), in denen Frauen und Männer zusammen beten. Die Cem-Häuser sind die Gebetsorte und Begegnungsstätten der Aleviten. Die Gebetszeremonie „Cem“ wird durch das Glaubensoberhaupt „Dede“ geleitet. Während der „Cem“-Zeremonie wird nach der alevitischen Glaubenslehre die Geschlechtertrennung und jegliche Art von gesellschaftlichem Status zwischen den Menschen aufgehoben. Alle Teilnehmer an der „Cem“-Zeremonie werden als „Can“, also als „reine Seele“, angesehen.

Aleviten betrachten Männer und Frauen als gleichberechtigt. Die Monogamie ist bei den Aleviten die einzige zulässige Form der Ehe. Alevitische Männer und Frauen kennen keine Geschlechtertrennung in ihrer Glaubenspraxis und im alltäglichen Leben. Es muss jedoch hinzugefügt werden, dass innerhalb der Praxis die patriarchalischen Familienstrukturen nicht ganz abgeschafft sind. Im Erziehungskonzept des Alevitentums (4 kapi 40 Makam) spielt dennoch die Förderung demokratischer Prozesse und Werte eine grundlegende Rolle.

Rund 20 Millionen Menschen bezeichnen sich in der Türkei als Aleviten. Sie bilden die zweitgrößte Glaubensrichtung in der Türkei. In Deutschland gibt es über 160 Gemeinden, die unter dem Dachverband der Alevitischen Föderation organisiert sind. Es leben in Deutschland nach Schätzungen ca. 800.000 Aleviten. In den letzten Jahrzehnten haben auch die Aleviten durch die Urbanisierung und rasanten soziokulturellen Entwicklungen gesellschaftliche Veränderungen bzw. Umstrukturierungen erlebt.

Aleviten zeichneten sich früher dadurch aus, dass sie vorwiegend in ländlichen Gegenden lebten, landwirtschaftlich tätig waren und von der Außenwelt auch durch Verfolgung und Pogrome abgeschnitten waren. Die Endogamie war lange Zeit für die Aleviten charakteristisch. Aufgrund der vermehrten Migration seit den 1950er Jahren haben sie sich sowohl in der Türkei als auch im Ausland in Städten niedergelassen.

Während in kleinen Dorfgemeinschaften auch aufgrund staatlicher Repressionen keine Cem-Häuser errichtet werden konnten und religiöse Praktiken bzw. Cem-Gottesdienste in den Häusern meist geheim abgehalten wurden, sind in den letzten Jahrzehnten sowohl innerhalb als auch außerhalb der Türkei und vor allem in den europäischen Ländern vermehrt Cem-Häuser errichtet worden. Diese Gemeindehäuser haben sich mittlerweile zu hoch komplexen Institutionen entwickelt, die die religiösen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Aleviten befriedigen. Sie sind aber auch auf politischer und anderer gesellschaftlicher Ebene zu wichtigen Kooperationspartnern geworden. Die Menschen mit alevitischer Identität nehmen aktiv an der Mitgestaltung und Teilhabe des gesellschaftlichen Lebens teil.

[1] Prof. Dr. Ursula Spuler-Stegemann: Religionswissenschaftliches Gutachten für das Ministerium NRW / Ist die Alevitische Gemeinde Deutschland e.V. eine Religionsgemeinschaft? Marburg 2003, S. 6.

[2] Siehe: Das Gebot (türk. Buyruk, eine der schriftlichen Hauptquellen im Alevitentum), veröffentlicht in der deutschen Sprache von Prof. Dr. Fuat Bozkurt, Hamburg 1988. E.B.-Verlag Rissen.

[3] Bülent Korkmaz: https://buelentkorkmaz.wordpress.com/deutsch-alevitentum

[4] Alevitische Gemeinde Duisburg: www.alevi-du.com

[5] Sinan Erbektas: Axiome und Organisationsformen der Aleviten, in Karin Vorhoff: Renaissance des Alevismus. Köln 1998, S. 96. Zitiert in dem religionswissenschaftlichen Gutachten für das Land NRW

[6] Remzi Kaptan: Die Alevitische Lehre, Stuttgart 2016, S.79.

[7] Prof. Dr. Ursula Spuler-Stegemann: Religionswissenschaftliches Gutachten für das Ministerium NRW / Ist die Alevitische Gemeinde Deutschland e.V. eine Religionsgemeinschaft? Marburg 2003, S. 41.

Verfasst von:

Bülent Korkmaz – Dipl. Sozialpädagoge (Bildungsbeauftragter der Alevitischen Gemeinde Duisburg von 2014 – 2019)

Verwendete Quellen:

  • Alevitische Gemeinde Duisburg: alevi-du.com.
  • Das Gebot (türk.: Buyruk, einer der schriftlichen Hauptquellen im Alevitentum), veröffentlicht in der deutschen Sprache von Prof.Dr. Fuat Bozkurt, Hamburg 1988. E.B.-Verlag Rissen.
  • Erbektas, Sinan: Axiome und Organisationsformen der Aleviten, in Karin Vorhoff: Renasissance des Alevismus. Köln 1998, zitiert in dem Religionswissenschaftliches Gutachten für das Land NRW.
  • Kaptan, Remzi: Die Alevitische Lehre, Stuttgart 2016.
  • Korkmaz, Bülent: https://buelentkorkmaz.wordpress.com/deutsch-alevitentum
  • Dr.Ursula Spuler-Stegemann: Religionswissenschaftliches Gutachten für das Ministerium NRW / Ist die Alevitische Gemeinde Deutschland e.V. eine Religionsgemeinschaft? Marburg 2003.

Verwendete Quellen in türkischer Sprache:

  • Aksüt, Hamza: Aleviler, Ankara 2012, Yurt Kitap Yayın
  • Buyruk: Hazirlayan Sefer Aytekin, Ankara 1958, Emek Basim-Yayimevi.
  • Bedri Noyan: Bektaşilik Alevilik Nedir?, Istanbul 1995, Ant Yayınları 3. Baskı.
  • Erdebilli Seyh Safi ve Buyrugu: Hazirlayan Mehmet Yaman Dede, Istanbul 1990, Maarif Kitaphanesi.
  • Kehl-Bodrogi,Kristina: Kızıbaşlar/Aleviler, Istanbul 2012, Ayrıntı Yayınları.
  • Korkmaz, Bülent: Aleviligin Inanc Ilkeleri, Istanbul 2014, Anadolu Ofset
  • Korkmaz, Bülent: Riza Sehri`nin Cocuklari, Ankara 2018, Yurt Kitap-Yayin.
  • Makalat-i Haci Bektas Veli: Hazirlayan Aziz Yalcin, Der Yayinlari.
  • Melikoff, Irene: Uyur idik Uyardilar, Istanbul 2009, Demos Yayinlari.
  • Yaman, Mehmet: Alevilik (Inanc, Edep, Erkan)
  • Ulusoy A., Celalettin: Hünkar Haci Bektas Veli ve Alevi Bektasi Yolu, Hacibektas 1980
  • Zelyut, Riza: Öz Kaynaklarina Göre Alevilik